Die Tagebücher von Mussolinis Geliebter
VON HENDRIK WERNER
19. November 2009
Clara Petaccis Aufzeichnungen erscheinen. Sie werfen ein neues Licht auf den Antisemitismus des Duce
In diesem Herbst ist es 25 Jahre her, dass ein Film die Italiener so sehr erregte wie zuvor wohl nur Sexszenen im Kinoschaffen des freizügigen Pier Paolo Pasolini. Es ist daher nicht ohne Ironie, dass "Claretta" (1984), ein Film des Regisseurs Pasquale Squitieri, beide Aspekte gleichberechtigt behandelte: Faschismus und erogene Zonen, mithin die Macht und ihre Verführungsgewalt.
Innig verknüpft in einer intensiven Intimstudie über die Beziehung von Benito Mussolini zu der ihm hörigen Langzeit-Geliebten Clara Petacci (1912 - 1945), gespielt von der für ihre Naivchenrolle in Venedig ausgezeichneten Claudia Cardinale. Das der historischen und emotionalen Klitterung in gleich mehreren Fällen verdächtige Werk bewegte seinerzeit so sehr, weil es an ein Tabu rührte: Wie menschlich, ja, wie liebesbedürftig darf der Duce und mit ihm seine dezidiert inhumane Politik auftreten?
Squitieris Film löste diese Frage damals auf anfechtbare Weise: Er zeigt in Gestalt eines schwülstigen und unironischen Melodrams, wie sich die 24-jährige Arzttochter Clara Petacci anno 1936 nach gut vier Jahren platonischer Verehrung mit Haar und Haut gehorsam in einen informellen Harem fügte - und den um knapp 30 Jahre älteren Chef-Faschisten auch körperlich folgsam lieben lernen wollte. Das offenkundige Risiko der Gleichschaltung mit einer ganzen Reihe anderer Duce-Frauen - von der ihm angetrauten und offiziell nie verlassenen Rachele über die Marxistin Angelica Balabanoff bis zur gleichfalls linken Margherita Sarfatti, einer Jüdin - ging die nur zu gern verblendete Petacci in dem Köhlerglauben ein, dass "mein schöner süßer Ben seine kleine Anbeterin immer stärker lieben wird", wie es im Skandalfilm-Skript heißt.
Dass sie mit Unterwerfungsgeste den ausgeprägten Großmannsambitionen eines mit seiner Manneskraft protzenden Schwerenöters von kleinem Wuchs erliegt, stört auch die historische Clara Petacci nicht weiter. So wenig wie der Umstand, dass sie sich fortan als eine Luxushure verstehen muss, die - behängt mit Pelz und Schmuck - allzeit verfügbar zu sein hat, aber zugleich auf ein endloses Warten verpflichtet wird, das nicht einmal Odysseus' treudoofe Penelope mitgemacht hätte. Bei vielen ihrer kurzen Schäferstündchen soll Mussolini die Stiefel angelassen haben. Doch selbst als der Duce im Juli 1943 schließlich gestürzt wird und ihre Familie Hals über Kopf aus Rom flieht, mag sich die ihrem Führer vollends verfallene Petacci noch immer nicht lossagen von jenem Mann, der sie psychologisch und sexuell ganzheitlich wunderbar erniedrigt, pardon: befriedigt haben muss.
Sie steht ihm bis zuletzt devot zur Seite: Als das Paar im April 1945 beim Versuch einer Flucht in die Schweiz gefangen genommen wird, eröffnet sich ihr zwar die Möglichkeit zur Flucht. Die dienstbare Mätresse aber zieht es vor, sich noch vor Mussolini erschießen zu lassen. Liebeslohn der Italo-Eva-Braun: Ihre Leiche wird von den Partisanen nahezu gleichberechtigt neben der des Geliebten kopfüber aufgehängt und geschändet.
Diese Vorrede ist nötig, will man annähernd begreifen, was 64 Jahre nach der Exekution und 25 Jahre nach dem inkriminierten Film in Italienern vorgeht, wenn Signora Petacci, diese für kollektive Schuldvermutungen stehende Allegorie des Versagens und der Unterordnung, erneut die Bühne betritt. Diesmal tut sie das beredt, eventuell sogar authentisch in Form von Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1932 bis 1938. Bislang lagerte das explosive Material im römischen Staatsarchiv. Jetzt erscheint es in dem von Mauro Suttora herausgegebenen Band "Mussolini segreto" (Der geheime Mussolini). Nicht etwa in einer des subalternen Devotionalienhandels verdächtigen Postfaschisten-Edition, wie es sie in Italien reichlich gibt, sondern im angesehenen Mailänder Verlagshaus Rizzoli.
Über die Publikation des brisanten Konvoluts war man sich jahrelang uneins; erbittert und mit unterschiedlichen Argumentationsstrategien rangen italienischer Staat und Petacci-Erben um die Frage, ob der Wille zur historischen Exaktheit den Primat über Persönlichkeitsschutzrechte beziehungsweise über die potenzielle Selbstentblößung einer Hetäre beanspruchen dürfe. Letztlich triumphierte die Aufklärungsfraktion in einem Land, in dem die Postfaschisten nach wie vor gewichtige Worte mitzureden haben.
Einen Vorgeschmack auf die pikante Selbstentäußerung von Petacci hat noch vor der offiziellen Veröffentlichung ein Diarien-Vorabdruck im "Corriere della Sera" geliefert: Darin gibt es neben servilem Säuseln und religiös grundierten Sex-Fantasien auch aufschlussreiche Achsenmacht-Anekdoten: Führer-Kollege Adolf Hitler sei ihrem Gespielen bei der Münchner Konferenz im September 1938 als "sehr sympathisch" erschienen. Dies nicht zuletzt, weil er laut Mussolini (laut Petacci) Tränen der Rührung in den Augen gehabt haben soll, als er des Bundesbruders ansichtig wurde. Zudem erhärten die Tagebucheinträge Petaccis die von den Postfaschisten jüngst gern abgemilderten Vorwürfe, der Duce sei Hardcore-Antisemit gewesen. Vielmehr zeigen die überlieferten Zitate, dass der italienische Geschichtsrevisionismus womöglich seinerseits gründlich revidiert werden muss.
Die Italiener müssten endlich lernen, sprach der Duce, folgt man Petacci, zur auch in Italien notorisch anhängigen Judenfrage, "sich nicht länger von diesen Reptilien ausbeuten zu lassen". Und weiter: "Ich war schon 1921 Rassist. Ich verstehe nicht, wie man behaupten kann, ich würde Hitler imitieren; der war damals noch gar nicht geboren. Das ist lachhaft. Man muss den Italienern das Bewusstsein für die Rasse geben, damit sie keine Mischlinge schaffen - und damit sie nicht das Schöne zerstören, das in uns ist."
Selbst diese krude Passage ist steigerungsfähig, will man der Überlieferung Petaccis Glauben schenken: "Diese ekligen Juden", heißt es anderenorts, "ich muss sie alle vernichten. Ich werde ein Massaker anrichten, wie es die Türken taten. 70 000 Araber habe ich verbannt; dann werde ich doch auch 50 000 Juden verbannen können. Ich interniere sie auf einer kleinen Insel. Sie alle sind Aas, Feind, Feigling. Und werden noch sehen, wozu die Stahlfaust Mussolinis fähig ist."
Ironie der Aufarbeitungsgeschichte: Wozu ausgerechnet der dokumentarische Ehrgeiz einer handzahmen Sklavin fähig ist, dürften italienische Postfaschisten spätestens dieser Tage begreifen, da die lange Zeit unter Verschluss befindlichen Tagebücher der Clara Petacci veröffentlicht werden. Die Notizen der bis in den Tod gehorsamen und daher als Quelle mutmaßlich glaubwürdigen Gefolgsfrau Mussolinis könnten die extreme Rechte in extreme Bredouille bringen, was ihre ideologiegeschichtliche Glaubwürdigkeit anbelangt. Es mag zynisch klingen, aber für die Geschichtsschreibung muss es so scheinen, als habe sich "Claretta" nicht umsonst hingegeben.
Mauro Suttora (Hg.): Clara Petacci: Mussolini segreto. (Rizzoli, Mailand. 521 S., 21 Euro).
http://www.welt.de/die-welt/kultur/article5261255/Die-Tagebuecher-von-Mussolinis-Geliebter.html